Die einzige Aufgabe, welche unsere zwölfte Reiseleiterin Jennifer heute hat, ist uns morgens um halb elf Uhr beim Yangtse Staudamm abzuholen, uns zwei Erstklasstickets nach Suzhou auszuhändigen und uns mit
dem Auto eine halbe Stunde zum Bahnhof von Yichang zu fahren. Wobei selber steuern, tun unsere Reiseleiter und Reiseleiterinnen die Fahrzeuge nie. Dafür gibt es eigens Fahrer, welche für unsere Transfers und
Ausflüge zuständig sind. In der Regel werden wir in geräumigen Grossraumautos, wie Limousinen oder Vans chauffiert. Das klappte bisher perfekt - zumindest bis heute Abend.
Jennifer bringt uns also zum Bahnhof. Zuvor decken
wir uns in Yichang noch mit etwas Lebensmitteln und frischen Früchten ein. Denn die gut 1'000 Kilometer lange Bahnfahrt in einem der schnittigen Schnellzüge Chinas soll ganze sieben Stunden und dreissig Minuten dauern. Dies bei etwa acht
bis zehn längeren Stopps. Und das Essen im Speisewagen sei nicht besonders, sagt uns Jennifer. Zusammen mit der Anreise aus der Mongolei wird dies nun unsere vierte Zugfahrt auf dem grössten Eisenbahnnetz der Welt sein. Von den
insgesamt 90'000 Kilometern Schienen, werden wir heute den knapp Achttausendsten unter die Räder nehmen. Und am 27./28. Oktober erwartet uns noch eine kurze Zugfahrt von gut 400 Kilometern.
Besonders erwähnenswert ist Chinas
Sicherheitsdispositiv an den Bahnhöfen. Es ist mit demjenigen an den Flughäfen nahezu identisch. So muss man, um überhaupt in eine Bahnhofshalle zu gelangen, sämtliches Gepäck auf ein Rollband legen,
wo es durchleuchtet wird, während man sich selber einer Leibes- und Personenkontrolle zu unterziehen hat. Parall dazu werden Ausweis- und Ticketkontrollen vorgenommen. Jetzt ist man aber erst in der Bahnhofshalle. Dort findet
man nun Anzeigetafeln, welche ähnlich, wie bei uns im Westen, Zugnummern, Abfahrt und Bestimmungsort und die Abfahrtszeit angeben. Nur, während wir im Westen ungehindert zu den Geleisen marschieren können, müssen Chinas
Bahnreisende so lange in der Abfertigungshalle warten, bis der Zug auf dem Geleise bereitsteht. Dann heisst es beim richtigen Gate einstehen und warten, bis die Gäste zum Einsteigen aufgerufen werden. Nun müssen die Tickets mit
den reservierten Sitzen nochmals vorgewiesen werden, bevor man sich zum Zug begeben darf. Und hier geht die Kontrolle weiter. Vor jedem der numerierten Wagen steht ein Zugbegleiter oder eine Zugbegleiterin, welche kontrolliert, ob man auch den richtigen Zug
und den richtigen Wagen besteigt. Unsere heutige Zugbegleiterin - wie der Name bereits so schön sagt - begleitet uns dann auch noch bis zu unseren vorreservierten Plätzen.
Obwohl Jennifer nicht mit uns nach Suzhou fährt, darf sie
uns kurz in die Wartehalle des Bahnhofs begleiten und uns zeigen, wo das Gate und die Anzeigetafeln sind, auf die wir zu achten haben. An den Flughäfen, wie auch an den Bahnhöfen sind Destinationen und Abfahrtszeiten in aller Regel nicht nur auf
chinesisch, sondern auch auf englisch angeschrieben. Auch viele Durchsagen erfolgen in einem guten Englisch. Wer also über etwas Englischkenntnis verfügt, sollte sich an Chinas Flughäfen und Bahnhöfen relativ gut zurechtfinden.
Vorausgesetzt, man schafft es überhaupt bis dorthin. Denn das grössere Problem ist, kaum ein Taxifahrer den wir bisher getroffen haben, versteht englisch. In der Regel nicht einmal Wörter, wie "airport" oder "railway
station". Da habe ich auch schon mal meine Arme zu Hilfe genommen und den "fliegenden Vogel" nachgeahmt. Eine solche Zeichensprache, zusammen mit unserer Vollpackung, verstehen dann selbst wenig sprachgewandte Taxifahrer. Doch in der Regel haben
wir hier in China keine solchen Probleme. Denn entweder sind unsere Transfers in der von uns gebuchten Rundreise eingeschlossen oder unsere Reiseführer organisieren uns vor unserer Abreise einen entsprechenden Transport oder man schreibt uns
zumindest die nötigen Stichwörter auf chinesisch auf. Denn lesen und schreiben können sie - die Taxifahrer.
Wir haben noch fast zwei Stunden Zeit, bis unser Zug fährt. In der Wartehalle erkläre ich Jennifer, wie einfach wir
im Westen einen Zug besteigen können; keine Kontrollen, kein Vorweisen von Sitzplatzreservationen und (wer betrügen will) auch ohne Billet. Jennifer erklärt uns, das sei bei ihnen früher auch so gewesen. Als es jedoch
an Bahnhöfen Anschläge gegeben habe, habe man in ganz China diese Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Ob Jennifer damit auch Anschläge in China gemeint hat und falls ja, wann und wo diese geschehen sind, habe
ich sie vergessen zu fragen.
Doch Eines ist gewiss: Die lästigen Kontrollen, Checks und Abtastereien haben letztlich auch etwas Gutes. Sie bieten den Bahnreisenden ein hohes Mass an Sicherheit und Ordnung. Und
wie wir unlängst wissen, wird in China Sicherheit und Ordnung ziemlich gross geschrieben. Exakt um 13.33 Uhr, d.h. mindestens so pünktlich wie eine Schweizer Uhr, verlässt Zug D3074 Yichang mit Endziel Shanghai. Der
Zug beschleunigt bis auf gut 200 Stundenkilometer. Ausserhalb der Stadt wird es zusehends ländlich. Reis- und Gemüsefelder wechseln sich mit vielen Karpfenzucht- und Lotosblumenteichen. Uns gegenüber sitzen zwei
Chinesen. Beide schauen über Stunden kaum auf. Sind sie doch mit dem grössten, bzw. dem kleinsten Lieblingsspielzeug, welches ihnen das 21. Jahrhundert beschert hat, beschäftigt. Dem Handy. Brennend interessieren
würde mich, wieviele Milliarden Handys in China tagtäglich in Betrieb sind.
In knapp acht Stunden sollte uns aber ausgerechnet diese Technologie noch sehr hilfreich sein.
Wir vertreiben uns unsere Zeit im Zug
- ganz China untypisch - mit lesen, Karten spielen, schlafen und essen. Wobei Karten spielen können Chinesen auch. Sie verwenden dazu die französischen Jasskarten. Und beim Essen halten die Chinesen ganz und gar nicht zurück. Kurz vor 21
Uhr erreichen wir dann Suzhou. Wir steigen aus und begeben uns zum Bahnhofausgang, so, wie wir dies immer tun. Im Wissen darum, dass wir hier von unserer nächsten Reiseführerin abgeholt werden, welche uns zum Hotel Jasmin
(gehört zur Holiday In-Kette) bringt. Die Bahnhöfe Chinas sind in der Regel gross. Auch derjenige von Suzhou ist so einer. So besitzt Suzhou einen nördlichen, wie auch einen südlichen Ausgang. Wir schauen nach links und rechts. Niemand
hält ein Schild auf mit unseren Namen drauf. Auf gut Glück begeben wir uns zum nördlichen Ausgang. Ausser Taxifahrern, welche uns ihre Dienste anbieten wollen, wartet hier niemand auf uns. Die Halle ist um diese Zeit fast menschenleer. Es
stehen lediglich noch ein paar junge Männer herum, welche dasselbe tun, wie unsere beiden Nachbarn im Zug; d.h. entweder auf deren Handy glotzen oder damit telefonieren. Ich spreche den Erstbesten auf Englisch an und frage
ihn, ob es hier noch einen anderen Ausgang aus dem Bahnhof gäbe. Wir würden nämlich auf einen Guide warten, der uns hier abholen sollte. Er sagt uns, ja auf der anderen Seite sei der südliche Ausgang. Bevor wir uns bedanken und verabschieden
können, frägt er uns, ob wir eine Telefonnummer von unserem Reiseführer hätten. Selbstverständlich haben wir dies. Unser Chinaprogramm, das uns Herr Kost von Hauger Reisen in Luzern vor unserer Abreise überreicht hat, ist ausgezeichnet.
Es ist detailliert und mit allen Adressen und Telefonnummern von unseren Hotels und den lokalen Reisebüros versehen. Ich nehme das Programm zur Hand und zeige dem jungen Chinesen, der im Übrigen ganz ordentlich englisch spricht, die
Telefonnummer der Reiseleiterin. Dieser tippt kurzerhand die Nummer in sein Handy, redet mit der Reiseleiterin und gibt mir dann sein Telefon, damit ich mit der Dame am anderen Ende selber sprechen kann. Die Chinesin spricht sehr gut deutsch. Zuerst
ist sie überrascht, dass wir bereits in Sozhou sind. Sie entschuldigt sich und sagt, sie sei ganz in der Nähe und bald bei uns. Wir bedanken uns beim hilfsbereiten Chinesen, der für seine Dienste kein Geld annehmen will und verabschieden
uns. Gut zwanzig Minuten später taucht sie dann auf - unsere Reiseleiterin. Sie entschuldigt sich nochmals in aller Form. Sie zeigt uns ein Papier, worauf Zugnummer D2209 steht. Sie habe uns mit diesem Zug erwartet. Dieser würde um 21.45
Uhr in Suzhou eintreffen. Das Reisebüro in Yichang hätte ganz vergessen ihr mitzuteilen, dass wir mit einem früheren Zug ankämen, als ursprünglich vorgesehen. So zumindest ihre Version.
Langer Rede
kurzer Sinn. So sind wir heute mit unserem Zug Nr. D3074 in Suzhou zwar extrem pünktlich - für unsere Reiseführerin vor Ort - jedoch zu früh eingetroffen.