Von wegen kalt!
Russland und besonders Sibirien werden meist mit eisigen Temperaturen von jenseits der Nullgradgrenze in Verbindung gebracht. Dies stimmt, aber nur beschränkt. Die Winter seien hier in Jekaterinburg am Ural eisig kalt. Das Thermometer könne gegen Ende Oktober bereits auf unter Null und dann im tiefen Winter während Wochen bis auf Minus 30 Grad sinken. Schlotter, schlotter, können wir da nur sagen. Minus 10 Grad würden die Jekaterinburger bereits als sehr angenehm empfinden, erzählt uns Olga, unsere heutige Stadtfüherin. Die Sommer seien kurz und die Temperaturen manchmal im Sommer nicht über 15 Grad.
In diesem Jahr sei aber Alles ganz anders. Seit Mai habe es kaum geregnet - Wasserprobleme bekämen sie deswegen jedoch keine, sie hätten mehr als genug Wasser und Zuflüsse aus den "Bergen" (Der Ural ist nicht höher als etwa 700 m). Und die Temperaturen seien - und das können wir selbst bestätigen - in diesem sehr heiss und trocken. In Moskau hatten wir z.B. am letzten Sonntag auf unserer Stadtführung im Schatten mindestens 33 Grad. Es soll gemäss Larissa, unserer dortigen Stadtführerin, der bisher heisseste Tag in diesem Jahr in Moskau gewesen sein. So heiss, dass die Bevölkerung, welche nicht unbedingt nach Draussen habe gehen müssen, aufgefordert worden sei zu Hause zu bleiben, so Larissa. Dafür war die Stadt fast ausgestorben. Wir mussten Moskau praktisch nur mit anderen Touristen - mehrheitlich mit Chinesen, teilen. Am Montag kühlte es dann in Moskau wieder ein Bisschen ab. Bis es dann am Dienstag auf unserer Fahrt nach Jekaterinburg wieder so richtig heiss wurde - zumindest Draussen. Und hier in Jekaterinburg liegen die Temperaturen wieder um die 30 Grad. Am Dienstag hätten sie hier 34 Grad gemessen, so Olga. Zwar werden in Grosstädten, wo zwangsläufig auch noch Smog und Abgase hinzukommen, Temperaturen von über 30 Grad als unangenehm empfunden. Doch lieber so als kalt und regnerisch. Haben wir uns doch seit den Azoren an schwülwarme Temperaturen bereits bestens gewöhnt. Und abgesehen davon, lösen wir solche Probleme auf unsere Art. - Wir essen einfach Eis! Und spätestens ab morgen Abend, wenn wir mit der Transsib wieder weiterfahren, haben wir auch dieses Problem für weitere zwei Tage gelöst. Denn dann wird man uns bestimmt wieder auf unter Betriebstemperatur heruntergekühlen. Unsere warmen Jacken werden sich freuen!
Im Guinessbuch der Weltrekorde!
Heute Morgen erzählte uns Olga bei der Stadtführung und dies für einmal wieder in fliessendem Deutsch, die Jekaterinburger seien im Guinessbuch der Weltrekorde gleich mit zwei Rekorden verewigt. Erstens würden sie mit dem nie fertiggestellten, 220 m hohen Fernsehturm (s. Bild) über die höchste Bauruine der Welt verfügen und zweitens - dies halte ich für fast noch skurriler - würden die Jekaterinburger pro Kopf am meisten Maionnese der Welt verzehren.
Zum Thema Maionnese macht Olga noch verschiedene Anmerkungen. 1. In Jekaterinburg gebe es eine grosse Maionnese-Fabrik. Und die Jekaterinburger würden ihre Maionnese für die beste der Welt halten. Und 2. den sogenannten russischen Salat, der eigentlich gar kein russischer Salat sei, weil von einem Franzosen zufällig erfunden, weil er keine Zeit für die Zubereitung von Gemüse gehabt und er dabei einfach alles von Kartoffeln, Karrotten bis zu den Erbsen zusammengemixt und so nach Russland gebracht habe, würden sie, die Jekaterinburger, im Winter und ganz besonders zu Neujahr russischen Salat - sie nennen ihn hier Olivier - in grossen Mengen verzehren. Der Salat werde dabei mit sehr viel Maionnese hergerichtet.
Ende mit Vollpension!
In eineinhalb Stunden treffen wir mit unserem «Rumpeltaxi», genannt Transsibirische Eisenbahn, in Jekaterinburg ein. Fertig mit Vollpension.
Heute kam die Zugbegleiterin gegen 08.00 Uhr. Zuerst wollte sie uns Souvenirs verkaufen – so wie beim Tax Free im Flugzeug. Gerne hätten wir ihr erklärt, dass wir noch auf langer Mission; unsere Rucksäcke bis auf den letzten Zentimeter mit Kleidern und technischen Geräten vollgestopft sind und wir mit je etwa 25 kg Gepäck schon genug schleppen. Unser Russisch lässt grüssen! Doch wir sagen uns, wenn sich unsere aufmerksame und freundliche Zugbegleiterin schon die Zeit nimmt uns Ihre Sachen zu präsentieren, dann zeigen wir uns wenigstens interessiert. Und das geht bekanntlich auch ohne Worte.
Schliesslich bestellen wir bei Ihr einen Frühstückskaffee und eine Tasse Tee. Für Heissgetränke, wie Kaffee und Tee ist in der Transsib nicht etwa das Bordrestaurant, sondern sind direkt die Zugbegleiter zuständig. Die Zugbegleiter belegen ein eigenes Abteil, wo sie einen Heisswasserboiler bzw. Kocher haben und von wo sie auch ihre Gäste bedienen. Für den Kaffee und den Tee haben wir dann zusammen 100 Rubel (umgerechnet 2.00 SFr.) bezahlt.
Übrigens: In jedem Wagen gibt es einen Zugbegleiter sowie einen Schaffner. Und die spielen ihre Rollen ausgezeichnet. So ist der Schaffner wie ein Schauspieler, der gleich mehrere Rollen spielt. Wenn der Zug nach hunderten von Kilometern in einen Bahnhof einfährt, steht unser Schaffner in seiner grauen Uniform mit aufgesetztem Hut, ganz förmlich und top hergerichtet vor seinen Wagen. Das tun ihm seine Kollegen Wagen für Wagen gleich. Vor dem Wagen verabschiedet er Gäste, welche hier aussteigen und er begrüsst neue und kontrolliert deren Fahrschein. Und allen, welche sich auf dem Bahnsteig kurz die Füsse vertreten wollen, sagen die Schaffner wie lange sie sich Draussen aufhalten können. Wenn dann wieder alle eingestiegen sind und der Zug - meist etwa nach einem 15 minütigen Halt - losfährt, dann zieht sich unser netter Schaffner schnurstracks um. Angesagt ist dann Tenü top leger mit kurzen Hosen, T-Shirt und Badelatschen. Als ich ihm so das erste Mal im Zug begegnet bin, musste ich gleich zweimal hinsehen und schliesslich das Lachen verkneifen. Habe den freundlichen Herrn im «Schlaftenü» fast nicht mehr erkannt. Ohne Uniform verlor dieser fast glatzköpfige Herr irgendwie seine Autorität. Absolut lustig und witzig zugleich.
Auf die nette Dame vom Bordrestaurant, die uns gestern noch zum Abendessen einlud, warten wir immer noch. Mittlerweile zeigt unsere Uhr 13.45 Uhr (Moskauzeit). Das Mittagessen ist längst vorbei. Unsere Vollpension von gestern – wohl auch! Macht nichts. Wir haben vorgesorgt und uns in Moskau noch mit allerlei Lebensmitteln eingedeckt. Und in knapp 90 Minuten heisst es ohnehin aussteigen. Wir kommen in Jekaterinburg an.
Alles russisch - oder was?
Wir ziehen weiter. Das mondäne Moskau liegt weit hinter uns. Draussen ziehen Birkenwälder an uns vorbei. Ab und zu sehen wir auch mal Mischwälder. Doch meist dominieren dünne, weisse Birkenstämmchen das Landschaftsbild. Manchmal macht der Wald ein paar kleineren Siedlungen Platz. Nichts mehr mit hypermodernen Prunkbauten, keine Festbeleuchtungen, keine Metro und auch kein hektischer Arbeitsverkehr mehr. Hier sind die Häuser meist nicht mehr als zweistöckig, dafür bunt und mehrheitlich aus Holz, während die Dächer weit nach Unten gezogen sind. Erinnert uns etwas an Nordeuropa - einfach etwas ärmlicher. Das ist wohl das andere Russland.
Wir sitzen im Speisewagen von Zug Nr. 2. Russisch können wir immer noch nicht. Genauso wenig die kyrillische Schrift lesen. Dafür redet das äusserst nette Zugbegleitpersonal praktisch nur noch russisch und gleichzeitig unentwegt auf uns ein. So als müssten wir doch einmal verstehen, was sie uns gerade sagen wollten. Aber nicht ungeduldig oder mürrisch, sondern immer herzlich und mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Und wir - wir lächeln einfach zurück. Wir verstehen. Und das ohne viele Worte. Diese Sprache versteht Jeder. Sie ist einfach universell.
Die Sonne steht tief. Gegen 19.30 Uhr verschwindet sie langsam hinter den vorbeiziehenden Wäldern. Das Farbenspiel von verschiedenen Grün- und Gelbtönen weicht einem einheitlich dunklen Grünschwarz. Am Horizont leuchtet noch ein goldgelber Streifen. Es ist wolkenlos und draussen immer noch über 25 Grad warm. Die Klimaanlage läuft auf Hochtouren. Frischfleisch gleich werden wir runtergekühlt. Und sei es nur, damit die Passagiere die nächsten Tage etwas weniger streng riechen. Denn Duschen haben wir in unserem Wagen noch keine gesichtet.
Wir schauen in die Nacht hinaus, sinnieren über die letzten Tage und über das, was uns die nächsten bringen mögen - eingepackt in warme Jacken. Der Zug hält für zehn Minuten. Ein Bahnhof im Irgendwo. Wie der Ort heisst, wissen wir nicht. Wir können immer noch kein Russisch. Was soll's! Wir müssen ja nicht Alles wissen. Und verstehen tun wir auch so.
Wir essen im Speisewagen einen kleinen gemischten Salat, danach gekochten Fisch mit Kartoffeln, trinken ein russisches Bier und sind überrascht, als die Rechnung nur gerade Fr. 7.00 macht. Aufmerksam, wie sie sind, bemerkt die Bedienstete des Speisewagens, dass wir ob der tiefen Rechnung überrascht sind. Sie deutet uns, wir hätten nur die Getränke zu bezahlen.
Das war es also, was sie uns vor Stunden in fliessendem Russisch zu erklären versuchte, während sie in unserem 2er-Abteil eine Bestellung aufnahm, die wir genausowenig verstanden. Offenbar haben wir beide Fisch bestellt ohne zu wissen, dass das Abendessen im Preis inbegriffen ist. Und hätten wir uns nicht intuitiv gegen 19.00 Uhr zwei Wagen weiter in den Speisewagen begeben, so hätten wir nie herausgefunden, dass diese freundliche Russin nichts weiter wollte, als uns in ihr Restaurant zum Abendessen einzuladen. Und ich - ich hätte Euch nie darüber berichten können.
Mittlerweile sind wir wieder längst in unserem Erstklassabteil zurück. Marion schläft längst. Es ist 22.00 Uhr (Moskauzeit). Ich mach' jetzt auch Schluss. Und wenn morgen die Sonne über Russland aufgeht, dann schreibt das Leben bestimmt wieder unzählig neue Geschichten. Ich werde versuchen, Euch erneut eine davon einzufangen.